Ein Essay über die Gerechtigkeit

von Robert Hoffmann

 

 

 

Der Kuchen und seine gerechte Aufteilung

 

Ein kleiner, geschichtlicher Leitfaden zur Kuchenverteilung.

Stellen wir uns einen saftigen Kuchen vor, welcher hier exemplarisch als zu verteilendes Gut bereitsteht. Aber wo kommt er her? Und wer hat ihn überhaupt gebacken?

Es handelt sich hier um den Beitrag einer Person oder Gruppe, denn wie wir unsere Güter und Dienste aufteilen entscheidet über die Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft.

 

 

Hobbes Kuchen des Leviathans

Jeder Mensch, so die Grundannahme, würde seinen eigenen Kuchen backen – so klein und mickrig, dass es kaum seinen Bedarf deckte. Daher sei der Mensch beständig auf der Lauer sich den Kuchen eines anderen zu schnappen. Der Mensch sei nun einmal sich selbst der Nächste und das sei schlicht seine Natur – also der Naturzustand.

Jedoch, so Hobbes, verfügten wir über Verstand, könnten uns damit am eigenen Schopfe packen und Kraft genau dessen ein System errichten, indem selbst ein Narzisst kooperativ handeln müsse. Eine Macht, die an Größe so überzeugend und absolut sei, dass sie Regeln und Strafen mit der Klarheit eines Naturgesetzes zur Wirkung bringe – der Leviathan. Unter der Sicherheit des Leviathans würden größere Kuchen gebacken und gerecht verteilt, weil ein Zuwiderhandeln schon aus Eigennutz nicht infrage kämme.

Jedoch wird eine derartige Macht schnell zur Bedrohung, da sie von Menschen kontrolliert werden müsste, welche sie missbrauchen könnten oder aufgrund fehlerhafter Informationen falsch anwenden. Zudem bleibt die Frage, wie sich der Leviathan selbst je verbessern sollte, wenn niemand ihn infrage stellen könnte?

 

 

Utilitarismus – die maximale Kuchenzufriedenheit

 

Wenn wir unseren saftigen Nusskuchen an, sagen wir, zehn Personen aufzuteilen hätten, wie sollten wir gerechterweise vorgehen? Wir suchen nach der maximalen durchschnittlichen Zufriedenheit aller, das klingt doch wohl gerecht?

Aber was wäre, wenn ein zehntel Kuchenstück niemanden wirklich sättigen würde, ja wenn es nur eine Lust auf mehr auslöste? Die Zufriedenheit bei allen Zehn wäre sicher am Boden. Also sollten wir besser den Kuchen in acht gleichgroße Stücke teilen? Ein Achtel, nicht viel aber gut genug, um eine Sättigung zu erreichen. Sicher, zwei Personen würden leer ausgehen, aber die durchschnittliche Zufriedenheit wäre größer.

Nein, das wäre ja nun wirklich ungerecht – diese armen Teufel?

Ein Utilitarist könnte erwidern: »Wir entscheiden völlig gerecht nach Los!«

So sinnvoll die These nach der maximalen Zufriedenheit zunächst erscheint, führt sie schnell zur Unfreiheit, ja sogar zur Versklavung einer Minderheit zum Zwecke der Mehrheit. Zudem ist stark zu bezweifeln, dass sich Zufriedenheit überhaupt in einer vergleichbaren Skalar definieren lässt.

 

 

Der liberale Kuchen alla Nozick und wie er kostet

 

Als Gegenreaktion steht nun das Individuum im Vordergrund. Der Kuchen sei die Summe aus Arbeitskraft und dem Erwerb aller Ingredienzien. Die Gewinnmarge hänge von dem freien Kuchenmarkt ab. Die unsichtbare Hand, also eine ohne staatliche Intervention, führe, trotz oder genau wegen des Prinzips der Gewinnmaximierung, zu einer Balance im Handel.

So gesehen findet eine Kuchenaufteilung durch Wettbewerb statt. Der möglichst frei und ohne Einschränkungen zu führen sei. Das so erworbene Kuchenstück sei nicht durch eine Kuchensteuer sinnlos zu belasten, da dies die Motivation weiterhin Kuchen zu backen beschneide. Das Eigentum des Einzelnen sei nicht durch eine Gruppe oder die Mehrheit anzugreifen, selbst wenn sich einige vor Kuchenmangel die Adern öffneten und andere sich die Kuchenbäuche wiegten.

R. Nozick schreibt: »Die Menschen haben Rechte, und einiges darf ihnen kein Mensch und keine Gruppe antun. Diese Rechte sind so gewichtig und weitreichend, dass sie Fragen aufwerfen, was der Staat überhaupt tun dürfe.«

Die unsichtbare Hand, welche wir seit Jahrzehnten am Werke sehen, strebt sichtlich nicht zu einer Balance, sondern in eine Oligarchie. Einige erwidern, dass dies gerade wegen der staatlichen Einmischung geschähe. Eine Argumentation, die nie widerlegbar ist, da jede Art von Regel später als Einmischung ausgelegt werden kann.

Dass jedoch in einem Wettbewerb irgendwann nur einige wenige das meiste besitzen, sollte nicht verwundern, ist dies doch die Natur des Wettbewerbs. Die Leistungsgerechtigkeit ist eine Ideologie des Gegeneinander. Die Gewinner boten die Verlierer aus – das ist die »Freiheit« des Marktes in Aktion. Was als Leistung gilt, wird aus wirtschaftlichem Profitstreben und aktueller Mode definiert – völlig entkoppelt von jedem gesellschaftlichen Nutzen.

 

 

John Rawls Kuchen hinter dem Vorhang

 

Demjenigen, der den Kuchen aufteilt, ist selbst nicht bekannt, welches Stück er später erhält. Daher sei er natürlich bemüht, ihn in gleichgroße Stücke zu teilen.

Diese Idee, so Rawls, sollte zum Prinzip werden. Der Schleier des Nichtwissens würde zu unbefangenen und nicht egoistischen Urteilen führen (welche die gerechten Startbedingungen für alle darstellten). Würde nun jemand mit Geschäftssinn sein Stück Marzipankuchen verkaufen und von dem Gewinn einen Apfelkuchen backen, wäre es gerecht, wenn er diesen dann ganz alleine verspeiste?

Rawls würde wohl erwidern, dass der Gewinn auf eine Fähigkeit beruhe, welche ihrerseits auf angeboren und soziale Faktoren fuße, die von zufälligen Umständen geprägt wurden. Daher sei es ungerecht, wenn jemand daraus alleinig Profit schlage. Der Kuchen sollte zu einem Teil, denen zugutekommen, die es am nötigsten haben. So ist der Erfolg einiger immer ebenso ein Gewinn für die Benachteiligten.

Der gerechte liberale Sozialstaat?

Eine Aufteilung durch den Schleier des Nichtwissens würde in aller Regel zu einer Gleichverteilung führen. Aber ist eine Gleichverteilung überhaupt gerecht? Wir gehen oft davon aus, weil wir uns sehr viel ungerechtere Verteilungen vorstellen können – aber dabei ist es schlicht nur das Prinzip des geringsten Übels.

Und selbst wenn der Gewinn nicht alleinig durch »Leistung«, sondern auch durch zufällige und stützende Faktoren zustande kam, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gesellschaft und ihren Individuen ist ebenso zufällig. So würden wir evtl. einen Lottogewinn als gerecht ansehen und kaum verlangen, ihn unter den Armen in der Umgebung aufzuteilen – weil er doch zufällig war.

Welche Verpflichtung kann es überhaupt geben, wenn wir uns als völlig autonome Individuen verstehen, die das Recht haben nach Freiheit und Glück zu streben?

Also doch zurück zum Naturzustand?

 

 

Aber Moment ...

 

Was ist dieses ungebundene autonome Selbst überhaupt, das so nach Freiheit und Glück verlangt? Sind wir nur die innere Stimme, das »Ich« im Kopf oder sind wir vielleicht mehr?

 

Ist das Streben nach maximaler Freiheit ein erstrebenswertes Ziel? Unabhängig von allen gesellschaftlichen, familiären und sozialen Bindungen? Führt eine Selbstmaximierung überhaupt zu einer gerechten Gesellschaft?

Michael Sandel formulierte es so: »Sich ein Bild einer Person zu machen, die solcher fundamentalen Bindungen unfähig ist, bedeutet nicht, sich einen idealen, frei und rational Handelnden zu denken, sondern sich eine Person ohne jeglichen Charakter, ohne moralische Tiefe vorzustellen.«

Die eigne Identität ist niemals losgelöst von seinem sozialen Gewebe. Diese unzähligen Bindungen alter und neuer Interaktionen verzahnen sich in uns als Teil eines größeren Ganzen. Es ist grundlegend zu erkennen, dass sich in uns sowohl eine personale Identität (die Ich-Stimme) wie auch eine soziale Identität (die Zugehörigkeit zu etwas Größerem) befindet.

Durch die Wettbewerbsgesellschaft in ein Gegeneinander getrieben, ist es nicht verwunderlich, dass es zunehmend an sozialer Identität mangelt. Das gerechte Handeln entsteht aus der Erkenntnis, dass wir keine isolierten Individuen sind. Trotz unserer Eigenständigkeit gehören wir immer auch einer sozialen Gemeinschaft an, die sich selbst über Generationen entwickelte und die Grundlage unserer Werte und unseres Lebens bildet. Das falsche Selbstbild des völlig unabhängigen Individuums führt nicht in die Freiheit, stattdessen in die mit Eigentumsansprüchen zementierte Isolation – in ein Gefühl des Mangels selbst im Überfluss.

 

Wie teilen wir den Kuchen unter guten Freunden?

Frank sagt, dass er wirklich hungrig sei und Peter erwidert, er hätte gerade gegessen und dass Frank sich gerne ein größeres Stücken nehmen könne. Petra mag besonders die Schokostreusel und bittet Frank ihr das Stück zu geben ... usw.

Aufkommende Konflikte (z.B. zu wenig Stücke mit Schokostreusel) werden durch typische (oft unbewusste) Routinen einer starken sozialen Identität gelöst. So wird bereits im Vorfeld versucht ein Engpass zu vermeiden, da die Bedürfnisse aller abgeschätzt werden. Sollte dies nicht gelingen, gibt es die Verhandlungsmarge. Eine unscharfe Spanne des persönlichen Verzichts, ohne, dass dies als Einschnitt empfunden würde. Die Marge ist umso kleiner, je größer die personale Identität fungiert (an der Exaktheit von Ansprüchen erkennen wir das Asoziale). Und selbst wenn Petra und Frank immer noch um das Stück mit den Schokostreuseln kämpfen, bietet sich unter Freunden die Möglichkeit der Kontexterweiterung an. Frank gibt nach und meint: »Gut nimm dir das Stück, dann bist du das nächste Mal mit Kuchen backen dran.« Petra erwidert: »Nein, Kuchen backe ich nicht gerne, aber eine hervorragende Pizza!«

Die Option der Kontexterweiterung ist letztlich immer möglich und bildet die Basis sozialer Beziehungen.

 

All dies geschieht ohne Bemühungen, selbstverständlich und auf Augenhöhe, als Individuum- und als Gruppen-Identität zugleich. Die Ansprüche und Bedürfnisse der Anderen sind gleich wichtig der meinen, da sie zum Teil (im Sinne der Gruppe zu der ich mich verbunden fühle) auch meine sind. Sie sind vom Inhalt verschieden, da Individuen verschieden sind.

In einer solchen von uns allen schon erlebten Situation, geschieht das, von dem viele glauben, es würde gar nicht existieren: Gerechtigkeit.

 

Gerechtigkeit entsteht nicht durch Zwang oder Verordnung, sondern durch die Qualität unserer Beziehungen. Sie bilden die Werte, die Weltanschauung und das Menschenbild unserer und folgender Generationen.